Regiestatement

REGIESTATEMENT

Die Lebensgeschichte Walter Arlens ist erstaunlich. Genauso erstaunlich, wie die körperliche und geistige Fitness des heute 98-Jährigen.
Und Walter Arlen kann wunderbar erzählen. Geschichten aus einer Zeit, die wir nahezu nur durch Schwarz-Weiß-Bilder kennen und die so weit zurück zu liegen scheint.
Er erinnert sich: präzise und berührend.
Selten genug stimmt der Satz: „Über die (oder den) sollte man einen Film machen“ – etwas, was Filmmenschen oft im Freundes- und Bekanntenkreis zu hören bekommen.
Bei Walter Arlen stimmte er – zumindest für mich.
Es sind komplexe, durchaus subjektive Fragen, die über einen möglichen Dokumentarfilm entscheiden: Das Potential und die Relevanz eines Themas, der persönliche Zugang zu den Protagonisten, die unabdingbare Vielschichtigkeit einer Geschichte, das Gefühl für eine mögliche filmische Form und noch vieles mehr. Eine Mischung aus rationalem und emotionalem Abwägen. Schlussendlich ist es eine Art innerer Film, der in einem abläuft und – im besten Fall – nicht mehr loslässt. Ein intuitives kleines Kino voller Möglichkeiten, Hoffnungen, Ungewissheit, Assoziationen, Neugierde, Bildern und Tönen. Schon in unserem ersten längeren Gespräch mit Walter Arlen hatte ich das Gefühl, dass ein derartiger Film zu laufen beginnt.
Es ist keine einfache Entscheidung einen bestimmten Film zu machen – nicht zuletzt in dem Wissen, um den langen Weg, den man von der ersten Idee bis zur Fertigstellung zu gehen hat. Und auf diesem Weg braucht es dann Menschen wie den Produzenten Peter Janecek, der sich – auch gegen alle Widrigkeiten – mit großem Engagement bei der Übersetzung dieser Filmidee in die Realität eingebracht hat, in der es dann um Finanzierbarkeit, Formate, Länge, Drehtage, Motive, Schnittzeiten, Verwertbarkeit, etc. ging.

Am Anfang von DAS ERSTE JAHRHUNDERT DES WALTER ARLEN stand das berüchtigte „Material-Sichern“ – jene budgetlose Situation, in der sozusagen „filmische Gefahr im Verzug“ besteht und es darum geht, unwiederbringliche Momente, die ansonsten ungefilmt dem Vergessen anheimfallen, mit der Kamera einzufangen. In diesem Fall hatten mir Freunde erzählt, dass ein Walter Arlen im Mai 2015 aus Los Angeles zu einer CD-Präsentation im Wiener Rathaus anreisen würde.„Über den sollte man einen Film machen.“ Ja, vielen Dank!

Schlussendlich drehten wir die CD-Präsentation und ein Interview – und damit war es wohl schon um uns geschehen. Walters Lebensgeschichte und sein Charme eröffneten – nach einvernehmlicher Teamentscheidung – einen weiteren Drehtag am Brunnenmarkt, beim „Dichterhof“.
Und als dann Howard Myers zwei Monate später anrief und mir mitteilte, dass im Herbst 2015 Walters „Song of Song“ in Los Angeles uraufgeführt werden würde, begannen Peter Janecek und ich ernsthaft über ein Filmprojekt nachzudenken.

Wim Wenders Ausspruch, „Ich mache Filme, weil ich etwas mag“, steht über dieser Arbeit. Es gibt unzählige Filme, die sich mit der Zeit des Nationalsozialismus auseinandersetzen, nicht ganz so viele, die sich mit der Nachkriegszeit und den gesellschaftlichen Folgen befassen. Bei Walter Arlens schwieriger Lebensgeschichte war es mir wichtig, eine gewisse erzählerische Leichtigkeit zu bewahren, seine Zeit–und Musikgeschichten aus seiner heutigen Lebenssituation heraus zu erzählen. Walters Erinnerungen an „sein“ Wien, seine große Nostalgie, der Boden, auf dem er heute noch geht. Zugleich die Erinnerungen einer Stadt an die dunklen Kapitel ihrer Geschichte. Kontraste zwischen Los Angeles und Wien, die in einem Menschen Ausdruck finden und zugleich in ihm verbunden werden.

Flucht als zeitlose, immer wiederkehrende Tragödie, die zu Neuanfängen zwingt – zumindest jene, die stark genug dazu sind. Das Wien, aus dem man flüchten muss und jenes, das einen aufnimmt. Musik, die Angst, Sehnsucht, Wut und Lebensfreude auszudrücken vermag. Musik, die analog zur kontrastreichen Lebensgeschichte Walter Arlens verläuft. Und nicht zuletzt die Geschichte von Walter und Howard, die seit 60 Jahren andauert. Das sind einige der formalen und inhaltlichen Ansätze, aus denen dieser Film entstanden ist.
23 Drehtage in Wien, LA und Niederösterreich – rund 80 Stunden Material.
Allen Schwierigkeiten zum Trotz wuchs das Filmprojekt parallel zu Walter Arlens später Komponistenkarriere – und unsere Freundschaft.

Viel zu viele der Geschichten und Erinnerungen fanden keinen Platz im Film. Ob jene von Walters Cousin Ernst Dichter, der als Schaufensterdekorateur im Warenhaus Dichter gearbeitet hatte und aus dem später der berühmte Werbeguru und Pionier der Marktpsychologie Prof. Ernest Dichter wurde, oder die Anekdoten und typischen Wiener G’schichtln rund um Walters enge Freundschaft zu Anna Mahler, der Bildhauerin und Tochter Alma und Gustav Mahlers, die Walter in die österreichische Exil-Gesellschaft der 1950er Jahre in Kalifornien eingeführt hat …
Und dann ist da noch Howard Myers. Ohne seine zurückhaltend noble Art und seine leise beharrliche Arbeit an Walter Arlens Karriere als Komponist, gebe es das wohl alles nicht.

Danke Howard!

Ich danke allen, die beim Zustandekommen dieses Films mitgeholfen haben!

Stephanus Domanig, August 2018